JÜRGEN AHRENS - KONZEPT UND TEXT
Strategien, Konzepte, Kampagnen, Ideen, Text & Ton -
Ihr erfahrener freier Werbetexter und Autor in München
Frankreich trifft Anatolien
Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch – egal, was passiert. So mancher Politiker sähe das gern im Grundgesetz verankert, und wer würde es auch ernsthaft bezweifeln?
Nun ja, man kann sich schon seine Gedanken machen. Immerhin enthält der listig eingefügte Nachsatz „egal, was passiert“, bereits zwei Immigranten – französische Vokabeln, die erst vor gut dreihundert
Jahren nach Deutschland gelangt sind: égal und passer. Altmeister Goethe zum Beispiel, obwohl von Jugend an frankophil, hatte das Fremdwort „egal“ noch gar nicht in seinem Vokabular; er verwendet es
jedenfalls in seinen Werken und Briefen kein einziges Mal und schreibt stattdessen „gleichgültig“.
Schon dieses kleine Beispiel illustriert, dass Deutsch das Gegenteil einer in sich geschlossenen und womöglich „rein germanischen“ Sprache ist. Vielmehr liefert es ein seltenes Musterbeispiel dafür,
was Sprache eigentlich darstellt: einen lebendigen, mit der Zeit gehenden und sich wandelnden Organismus, der, ähnlich wie ein Lebewesen, ständig atmet, isst, verdaut und ausscheidet. Man könnte auch
sagen: Das Deutsche ist eine äußerst leistungsfähige Verwurstungsmaschine, die sich munter einverleibt, was immer ihr in die Quere kommt. Manchmal werden ausländische Wörter auch so umgemodelt, dass
sie hier wie dort funktionieren: Man nehme den italienischen attentatore, pfropfe ihm den deutschen Täter auf, und schon hat man die neue Wortschöpfung Attentäter. Oder man kombiniere das deutsche
schlimm mit dem hebräischen massel („Glück“) und heraus kommt das Gegenteil des Ursprungswortes, der jiddische Schlamassel. Oder wir kneten uns aus fremdländischem Rohmaterial ganz neue
Begrifflichkeiten – wie Akkuratesse, Autoscooter, Bowle, Dressman, Friseur, Handy, Oldtimer, Profi, Pulli, Regisseur, Sakko, Showmaster, Simsen, Smoking, Trafo oder USB-Stick. Es ist genau diese
Integrationsfähigkeit, die unsere Sprache so überaus interessant, kraftvoll und farbenreich macht.
Im Lauf der Jahrtausende ist auf diese Weise ein bunt zusammengequirlter Multikulti-Eintopf aus germanischen und romanischen Strukturen und Vokabeln entstanden – mit einer Unzahl von Fremd- und
Lehnwörtern aus allen möglichen weiteren Sprachen und Ländern. Mitunter sind sie sogar über zwei oder mehr Landesgrenzen hinweg eingewandert und haben dabei ihre Gestalt und oft auch ihren Sinngehalt
verändert. Ein treffendes Beispiel ist das arabische safar (ursprünglich einfach „Reise“), das über die Swahili-Version safari ins ehemalige Deutsch-Ostafrika und von dort nach Deutschland gelangte.
Eine abenteuerliche Odyssee hat auch das altindische nilas hinter sich: In der Urfassung stand es für bläulich, im Arabischen wurde es als lilak zum Wort für Flieder, im Französischen tauchte es als
lilas in gleicher Bedeutung wieder auf, und schließlich landete es als lila in Deutschland. Oder, ebenfalls recht bizarr, der altnormannische trique („Betrug“), der aus Frankreich über Großbritannien
zu uns einwanderte und sich seit einigen Jahrzehnten in der neudeutschen Wortschöpfung tricksen wiederfindet.
Umgekehrt sind aber auch Tausende von deutschen Wörtern in die verschiedensten anderen Länder exportiert worden – und manchmal auch wieder zurück: etwa das deutsche schick, das nach längerem
Frankreichaufenthalt noch schicker, nämlich als chic, in seine alte Heimat zurückkehrte. Oder das Bollwerk, das eines Tages leicht verfremdet als Boulevard nach Hause kam. Oder die Arbeit, die im
Tschechischen zu Robot verballhornt wurde und in Gestalt des Roboters wieder zu uns fand. So gesehen, ist der Roboter ein gänzlich deutsches Wesen, nämlich nichts anderes als der vertraute Arbeiter.
Auch wir haben unseren Nachbarn also einiges zu bieten.
Aber was genau ist eigentlich die deutsche Sprache? Wo kommt sie her, und was macht ihr Wesen aus?
Ein kleiner Exkurs zur Begriffsklärung: Das Wort Deutsch geht auf ein altes germanisches Substantiv zurück (diot oder diota), was so viel wie Volk oder Stamm bedeutet. Im Altirischen findet es sich
als tuath wieder, im Litauischen als tautá. Daraus abgeleitet und seit dem 10. Jahrhundert belegt sind die späteren deutschen Varianten: althochdeutsch diutisc, mittelhochdeutsch diutisch oder
diutsch. Im Niederländischen hieß es ursprünglich duitsch (deshalb ging Dutch als Bezeichnung für die Niederländer ins Englische ein). Schon früher, nämlich im 8. Jahrhundert, wurde der
altgermanische Wortstamm zu theodiscus latinisiert (weshalb die Italiener für „deutsch“ noch heute das Wort tedesco haben). Der lateinische Begriff Lingua theodisca wurde schließlich zur amtlichen
Bezeichnung der altfränkischen Volkssprache im Reich Karls des Großen. Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Ost- und Westfranken (den heutigen Franzosen) entwickelte dieses Altfränkische sich
dann zum Oberbegriff für sämtliche Stammessprachen im Osten des Frankenreiches, also des späteren Deutschland.
Ursprünglich entstammt das Deutsche der indogermanischen Sprachfamilie, deren Mitglieder sich auf dem eurasischen Kontinent von der äußersten Nordwestecke bis weit nach Mittelasien verbreitet haben.
Persisch, Kurdisch, das afghanische Paschtu und verschiedene anatolische Sprachen gehören ebenso dazu wie die uns vertrauten europäischen Idiome. Gemeinsamer Vorläufer all dieser Sprachen ist eine
indogermanische Ursprache, deren Geburt mehrere Tausend Jahre zurückliegt. Wann und wo genau sie entstanden ist und gesprochen wurde, lässt sich nicht mehr mit vollständiger Sicherheit sagen.
Sprachwissenschaftler vermuten ihre Keimzelle teils auf dem Balkan, teils im Gebiet des heutigen Kirgistan, also am äußersten Ostrand Europas, teils sogar im heute türkischen Anatolien, das zum
asiatischen Kontinent gehört. Eine kürzlich erschienene wissenschaftliche Arbeit scheint letztere Hypothese zu bestätigen: Im August 2012 veröffentlichte eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern der
University of Auckland (Neuseeland) die Ergebnisse einer Studie*, in der 103 indo-europäische Sprachen untersucht wurden – mit dem Fazit, dass ein „decisive support for an Anatolian origin“ bestehe,
also eine eindeutige Untermauerung des anatolischen Ursprungs, und dies schon vor 8000 bis 9000 Jahren. Die ersten germanischen Sprachen als Vorläufer des heutigen Deutsch lassen sich allerdings erst
ab etwa dem 5. Jahrhundert v. Chr. weiter westlich orten und näher bestimmen.
In jedem Fall hat unser heutiges Deutsch eine lange und abenteuerliche Reise hinter sich. In deren Verlauf nahm es die unterschiedlichsten germanischen, aber auch romanischen und slawischen Elemente
in sich auf, spaltete sich in zahllose Dialekte und Mundarten und wurde so zu einer ausgesprochen multikulturellen (und bis heute schwierigen!) Form der sprachlichen Kommunikation. Nahezu jedes
seiner Wörter hat einen Migrationshintergrund, sei es germanischer, romanischer oder anderer Schattierung.
Häufig lassen sich an solchen Wortwanderungen auch kulturgeschichtliche Entwicklungen ablesen, wie zum Beispiel das Vordringen der romanischen Baukunst über die Alpen nach Norden: Für Wörter wie
Fenster, Fundament, Gips, Kalk, Kammer (das deutsche Wort Zimmer bedeutet eigentlich „aus Holz gebaut“), Keller, Marmor, Mauer, Mörtel, Quader, Schindel und Ziegel – allesamt aus dem Lateinischen
stammend – gibt es keine Entsprechung mit germanischen Wurzeln, weil unsere Vorfahren das Bauen mit Stein noch nicht kannten. Der lateinische carcer ist sogar zweimal nach Deutschland eingewandert:
das erste Mal während der Antike als Kerker, das zweite Mal im Mittelalter als Karzer, die Arrestzelle für aufmüpfige Studierende an den Universitäten.
Oder nehmen wir das italienische Bank-, Versicherungs- und Kaufmannswesen, das während der Renaissance seine Blüte erlebte und von der Lombardei aus den Weg nach Norden antrat: Aus dieser Zeit
stammen Wörter wie Agio, Assekuranz, Bank, bankrott, Bilanz, brutto, Diskont, Firma, Giro, Kapital, Kasko, Kasse, Konto, Kredit, Lombardsatz, Manko, netto und Saldo.
Auch unserer klassischen Musikkultur ist die Einwanderung aus Italien deutlich anzumerken – da erklingt eine Wortsinfonie aus adagio, allegro, Alt, andante, Arie, Bass, Bratsche, Cello, da capo,
Dirigent, Fagott, Klarinette, Konzert, Libretto, Menuett, Oper, Partitur, Piano, Primadonna, Rondo, Solo, Sonate, Sopran, Tenor, unisono, Violine usw. Bei der internationalen Popmusik unserer Tage
wiederum zeigt sich der beherrschende Einfluss der USA. Wir reden ganz selbstverständlich von Bandleader, Beat, Break, Charts, Discjockey, Feeling, Funk, Groove, Grunge, Hiphop, Hit, live, Open Air,
Playback, Punk, Rap, Rock, Sampler, Single, Soul, Synthesizer oder unplugged, ohne uns groß mit deutschen Alternativen abzuquälen.
Über das Englische braucht man ohnehin kaum Worte zu verlieren, scheint es doch so, als würden wir im Alltag heute zunehmend ein Gemisch aus Deutsch und Englisch reden. Hier stimmt allerdings unsere
Wahrnehmung nicht ganz, denn den Vogel schießt in Wirklichkeit Frankreich ab. Was das Deutsche im Verlauf der nachrömischen Geschichte an französischen Vokabeln aufgesogen hat, ist wahrhaft
gigantisch. Unser Wortschatz ist durchsetzt mit Hunderten, wenn nicht Tausenden französischer Wörter (Gallizismen), ohne dass wir sie im täglichen Sprachgebrauch überhaupt als solche wahrnehmen. Wir
verdanken sie größtenteils den hugenottischen Einwanderern der Neuzeit und später der napoleonischen Besetzung, aber auch im Mittelalter fand bereits ein reger und stetiger Direktimport statt. So
sind viele Wörter vom Altfranzösischen ins Alt- und Mittelhochdeutsche gelangt und haben die Evolution unserer Sprache über Jahrhunderte mitvollzogen. Andere Gallier (wie Bombast, Champion, Couch,
Festival, Grill, Klosett, Party, Rallye, Sport, Toast, Training oder Tunnel) gelangten über Großbritannien nach Deutschland – einige sogar zusätzlich zum direkten Grenzübertritt: Service gibt es bei
uns sowohl im französischen Original (als Tischgedeck) als auch in der englischen Version (als Dienstleistung).
Als Ergebnis reden wir quasi auf Schritt und Tritt Französisch, ohne uns dessen bewusst zu sein. Schon die ersten beiden Worte, die ein deutsches Baby quäkt (Mama, Papa) stammen von unserem
westlichen Nachbarn. Später entpuppt sich das Kleine vielleicht als Genie, nutzt seine Chance, macht Karriere als Journalist, Ingenieur oder Komiker und hat kommerziellen Erfolg. Voilà!
Bei Wörtern in ganz oder halbwegs erhaltener französischer Schreibweise und Aussprache erkennt man den Ursprung ja meist noch ohne Probleme – wie bei Abonnement, Accessoire, Coupé, Coupon, Medaille,
Restaurant, Toilette, Toupet usw.
Auch französische Verben, die mit deutschen Endungen versehen wurden, zeigen ihre Herkunft vergleichsweise unverhüllt: balancieren, changieren, echauffieren, engagieren, genieren, jonglieren,
soufflieren, tranchieren usw.
Schon etwas schwieriger wird es, wenn Wörter lautlich oder schriftlich halbwegs eingemeindet sind – wie neben vielen anderen Affäre, Allüren, Barrikade, Journalist, Kalkül, Parfüm, Passagier, Tourist
und neuerdings auch das Portmonee.
Äußerstes Gespür ist gefragt bei Gallizismen, die schon so fest im Alltagsgebrauch verwurzelt sind, dass wir sie kaum noch oder gar nicht mehr als Fremdkörper wahrnehmen, wie schon ein kleiner
Streifzug zeigt: Abenteuer, Allee, Allianz, Ballon, Dementi, Desaster, Garnitur, gewieft, Karussell, Leutnant, Limonade, Liter, Lokal, Lupe, makaber, manierlich, Maskottchen, Massaker, Möbel, Onkel,
Panne, Pantoffel, Pinzette, Rampe, Rang, rasieren, Relief, Rekrut, Rente, Reserve, rollen, Rollo, Roman, Soße, Tablette, Tante, Vase, um nur einige zu nennen..
So viel zum „Deutschsein“ der deutschen Sprache.
* Quentin D. Atkinson et al.: Indo-European Language Family. Science 24
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